Kann Begierde Sünde sein?

Der Oxford-Cambridge Philosoph Simon Blackburn verteidigt brillant und unerschrocken die Wollust
Die Welt
Von Wolfgang Sofsky 11. Oktober 2008, 03:33 Uhr
Von Krates, dem freigebigsten Schüler des Diogenes, berichtet die Legende, er habe sich gleich nach der Trauung mit seiner Frau Hipparchia auf den Stufen des Tempels niedergelassen und dort vor den Augen aller Welt das Werk der Aphrodite verrichtet. Derart begeistert war Hipparchia von ihrem Auserwählten, dass sie alle betuchten Freier verschmäht hatte. Mit ihrem mittellosen Gatten zog sie umher, vergnügte sich mit ihm in der Öffentlichkeit und nahm als einzige Frau an den Gastmählern der Philosophen teil. Anders als Diogenes, der sich auf der Agora hin und wieder mit sich selbst beschäftigte und nur gelegentlich die Dienste einer Hetäre bemühte, nutzte das Paar den Stand der Ehe zur Kopulation coram publico. Für die Zeitgenossen, vor allem aber für die christlichen Nachfahren machte dies keinen Unterschied. Sie verurteilten die Liederlichkeiten der Kyniker als tierische Verirrung, die Menschen zu Hunden herabwürdigte.
Zur Fortpflanzung oder Provokation dienten die Sexspiele vermutlich nicht. Auch politische oder philosophische Hintergedanken dürften die genügsamen Kyniker kaum gehegt haben. Es war pures Vergnügen, und die ungestüme Begierde scherte sich weder um den rechten Ort noch um die rechte Zeit. Ob zufällig Publikum zugegen ist, kümmert die Wollust nicht. Sie kennt keine Etikette und keine guten Sitten.
Obwohl heutzutage nackte Tatsachen überall zu besichtigen sind, steht die Wollust weiter im moralischen Zwielicht. Zwar reden nur noch blasse Greise, prüde Gouvernanten oder bigotte Fanatiker von Todsünden, aber auch die offizielle Sexualmoral misstraut zutiefst den zwecklosen Gelüsten des Fleisches. Mit Wohlgefallen betrachtet man ein junges Pärchen auf der Parkbank beim Händchenhalten. Ertappt man die beiden jedoch dabei, wie sie sich hinterm Gebüsch stöhnend ihrer Lust hingeben, sind nicht wenige pikiert.
Liebe indes genießt allseits Anerkennung. Sie will ja nur das Glück des anderen. Liebende blicken einander tief in die Augen, sind einander - eine Zeit lang zumindest - die ganze Welt. Das Verstehen scheint grenzenlos, und seine Entfaltung gedeiht unter Kerzenschimmer und gedämpfter Konversation.
Wollust hingegen nimmt, was gerade kommt. Sie ist treulos, wahllos, gewissenlos. Ihre Befriedigung findet sie im Lift oder Taxi. Sie arbeitet mit Tricks, Täuschung und Verführung. Unduldsam ist sie gegen jede Kontrolle oder Kommunikation. Selbstverlust ist ihr Ziel, Lust um ihrer selbst willen. Leidenschaft mag man dem Liebespaar zwar zugestehen, aber Lust ohne Liebe, ohne den blinden Wahn, der den anderen zum Inbegriff der Vollkommenheit verklärt, das scheint vielen auf Dauer allzu animalisch.
Gegen diese Abwertung der Wollust wendet sich
Simon Blackburn, Professor für Philosophie in Oxford, mit britischer Kühle, Ironie und analytischem Scharfsinn. Sein ebenso gelehrter wie amüsanter Essay durchstreift die Philosophiegeschichte nach Spuren der Wollust, nicht ohne Seitenblicke auf Literatur, Evolutionspsychologie und Theologie. Punkt für Punkt korrigiert er das populäre Zerrbild der Sünde. Wollust ist nicht nur nützlich, sondern lebensnotwendig. Ohne sie bevölkerte kein Mensch die Erde. Zudem sorgt sie für Kurzweil. Wie ein Sturm durchflutet sie den Leib, bringt ihn in Wallung und vergisst darüber den Rest der Welt.
Wollust unterbindet das Denken und befreit die Menschen von den Lasten des Selbst. Liebe ist eine Ausgeburt der Vorstellungskraft. Wer ihr verfällt, bildet sich ein, was er sehen möchte.
Gegen derlei Illusionen bietet die Wollust ein exzellentes Heilmittel. Sie hält es mit den handgreiflichen Fakten des Körpers statt mit den Fiktionen der Einbildungskraft.
Dieser
Wirklichkeitssinn war den Intellektuellen seit je suspekt. Schon Platon und Hippokrates hielten die Verschwendung des männlichen Samens für einen gefährlichen Verlust an Lebensenergie. Zwar wollten sie das Vergnügen keineswegs ausgetilgt wissen, aber der Sex sollte durch die harmonische Seele und das nicht minder harmonische Gemeinwesen streng kontrolliert werden. Von der Lust bliebe nach diesem Modell kaum etwas übrig. Im Zustand der Leidenschaft, will man spüren, wie man fortgerissen wird. Eine domestizierte Begierde wäre keine. Die Stoiker propagierten daher sogleich die Überwindung aller Gelüste durch konzentriertes Nachdenken, und für die asketischen Kirchenväter war die Wollust die Fessel, welche die Seele an die Kräfte der Finsternis bindet. Bereits die Erregung des Körpers galt als Auflehnung gegen Gott.
Für Blackburn ist Wollust kein individueller, sondern ein sozialer Prozess. "Ich begehre dich und begehre, dass du mich begehrst. Ich hoffe, dass du mein Begehren nach deinem Begehren begehrst, und wenn alles gut geht, wirst du es auch." Blackburn beruft sich auf
Thomas Hobbes, den man hierzulande allenfalls als Apologeten des absoluten Staates kennt, kaum jedoch als Anthropologen des Körpers. Die reine, unmittelbare Gegenseitigkeit der Wollust erscheint geradezu als Gegenbild zum berüchtigten Wolfskampf eines jeden gegen jeden anderen.
In der Wollust will der Mensch Gefallen erregen und erfreut werden. Das Vergnügen, das er an der Lust des anderen empfindet, ist weniger ein sinnlicher Genuss als ein
Frohlocken des Geistes. Er erkennt seine Potenz, die Feuer der Begierde entfachen zu können.
Das erotische Wir hebt die Individualität der Person auf und befreit sie aus dem Kerker existenzieller Isolation. Indem die Körper einander durch Berührung, Umklammerung, Penetration stimulieren, erlangen sie Macht über die Person. Es ist, als näherten sich die Menschen wieder jener ursprünglichen, androgynen Einheit, da beide Geschlechter noch eins waren. Wollust vermittelt eine Vorahnung davon, dass die endlose Suche nach dem verlorenen Partner der Traumzeit doch ein Ende haben könnte.
Ohne eine Prise Mythos und Idealismus scheint die moralische Ehrenrettung der Wollust kaum möglich. Blackburn erhöht die Temperatur der sexuellen Aktivität beträchtlich. Kühlere Kalkulationen der Libertinage sind ihm fremd, ebenso die erotische Sammelwut des Don Juan oder die perfekte Sexualkunst chinesischer Lüstlinge, die während des Kopulierens Briefe zu diktieren pflegten. Wahre Wollust beginnt bei Blackburn erst in
dahinschmelzender Hingabe.
Es ist die zeitweilige Aufhebung der Personalität, welche die Lust für Christentum und Humanismus bis heute so anrüchig macht. Ihre Vordenker fordern Würde und Achtung in allen Lebenslagen. Anerkennung gibt es allerdings nur auf Abstand. Den Bürden der Distanz und Reflexion trachtet die Wollust zu entkommen. Dies diffamieren ihre Feinde als Erniedrigung, Verdinglichung, sexistische Instrumentalisierung. Auch Simon Blackburn kennt die Katastrophen, die Strapazen, die Tränen im Bett.
Aber der prüde Moralismus verwechselt die Preisgabe der Identität mit Verdinglichung, moniert das respektlose Gebaren in der Ekstase als Missachtung der Autonomie, verachtet das alberne Necken, Kichern und Kitzeln beim Lustspiel als Verlust der Menschenwürde und verteufelt Prostitution und Pornografie als männliches Teufelswerk.
Simon Blackburn ist um entsprechende Einwände nicht verlegen. Bei Vergnügungen der pornografischen Art gibt es überhaupt keinen echten Partner aus Fleisch und Blut, und bei der
Prostitution gibt es keinen Partner, der das Begehren des anderen begehrt, sondern nur einen, der sein Geld will. Der Freier zahlt nicht für Wollust, sondern für ein Theaterstück [Anmerkung], und der Onanist verdinglicht nicht eine Frau, sondern lässt durch ein Stück Papier seine Fantasie anregen. Dass Partner sich in den höheren Lustsphären nicht sonderlich respektvoll behandeln, liegt schlichtweg daran, dass sie in der Ekstase einander überhaupt nicht behandeln, weil ihre Körper längst das Regiment übernommen haben. Geraten die Partner nun nicht in diesen anderen Zustand, bleibt die Enttäuschung nicht aus.
In
Zeiten der Prohibition, da selbsternannte Moralapostel beiderlei Geschlechts sich aufmachen, der Gesellschaft nach und nach sämtliche Genüsse auszutreiben, ist Simon Blackburns Plädoyer für die Wollust hochwillkommen. Gründlich entfernt es den Schmutz von der schönen Todsünde. Die kleine Schrift gibt ein lehrreiches Exempel für jenen freien und heiteren Geist, der dem hitzigen Moralismus hierzulande völlig abzugehen pflegt.
Simon Blackburn: Wollust.
Die schönste Todsünde. Aus dem Engl. von Matthias Wolf. Wagenbach, Berlin. 144 S., 10,90 Euro
Quelle
www.welt.de/welt_print/article2561372/K ... -sein.html
Von Blackburn's Homepage:
www.phil.cam.ac.uk/~swb24/books/lust.html
Anmerkung:
"Prostitution gibt es keinen Partner, der das Begehren des anderen begehrt, sondern nur einen, der sein Geld will. Der Freier zahlt nicht für Wollust, sondern für ein Theaterstück"
Richtig, wir wollen unser Geld und wir inszenieren. Wir sind schlieslich die Profis.
Aber unsere Gäste wollen eindeutig mehr. Sie wollen gerade unser Begehren, die Geilheit und unsere Wollust spüren.
Es ist allerdings bei professionellen Paysex-Kunden nicht die von uns auf ihre individuelle Person im Sinne auf Alleinstellung ausgerichtete Beziehung gerichtete Lust. Es ist die freie Lust an sich. Die Lust am Sex, an Kontakt, Körperlichkeit, an Promiskuität, die als Lebenselexier und -energie konsumiert wird. Es ist unsere Lustkompetenz, sexuelle Offenheit und hohe Energie, die die Teilhabe und Teilnahme selbst eines Fremden erlaubt.
Es kommt nicht auf den Partner an, so wie bei einer Liebesbeziehung. Und doch kommt es auf ihn an bei der bezahlten Wollust, eben anders, so wie sie anders ist. Für den Kunden muß der Partner sexy, jung, schön, exotisch, gut ausgestattet, erfahren, gesund, kultiviert, unterhaltsam, diskret ... sein. Für den Sexworker muß er unkompliziert, höflich, gepflegt ... sein und das Setting und den Sexworker akzeptieren und wertschätzen.
Und wenn die Gäste uns neben Geld auch Anerkennung mitbringen, turnt uns das ungemein an ...
und es wird eine für beide Seiten um so befriedigendere Begegnung.
Wenn schon für die Wollust eine philosophische Lanze gebrochen wird,
dann bitte nicht aufkosten sondern auch für das Institut der Prostitution,
die uralte kulturelle Tradition der kultivierten Wollust.
Die Künstler Hironimus Bosch und Lukas Maximilian Hüller zur Wollust (Luxuria):
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=28633#28633
Dort auch ein Link zu guten Traktaten von Wolfgang Sofsky zu 6 modernen Untugenden.
Nachtrag 11.4.9:
Der Sex, die Lust/Wollust kommt aus der Sexualität (Fortpflanzungstrieb).
Die Liebe kommt von der Mutterliebe (Aufzucht der noch unfertigen Säuglinge beim Menschen).
Also beides Naturerfindungen.
Beide zu vermählen und miteinander als Ideal zu verketten ist eine kulturelle Erfindung des aufstrebenden, wohlhabender werdenden Bürgertums in der
Zeit der Romantik (1790-1850).
Nachtrag 25.9.9:
Der Sex wird regiert vom Testosteron..
Die Liebe vom Oxytocin:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=47574#47574 (sw-only)
Beides existenzielle Phasen des Lebens.
Und wenn Sex und Liebe oder Liebe und Sex die ersten beiden Phasen von Partnerschaft sind, so ist die dritte diejenige von Vertrautheit und Mitgefühl ...
Zwei scheinbar unvereinbare Skalen:
Sex und Arbeit
Freiwilligkeit und Zwang.
Das eröffnet Möglichkeiten für Manipulation ist ist möglicherweise eine Ursache für Stigmatisierung.
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=95790#95790
Fachbuch: Subjektivität = Sexuelle Arbeit
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=66929#66929
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