- Exiting Prostitution:
An Integrated Model
Ausstieg für Frauen aus der Straßenprostitution
Lynda M. Baker
Rochelle L. Dalla,
and Celia Williamson
(versch. Universitäten in den USA,
wo Sexwork vollständig kriminalisiert ist)
2010
in: Violence Against Women 16(5) 579–600
Download siehe unten: Attachment
Die Straßensexarbeit zu verlassen ist meist ein langdauernder, sehr intensiver, psychologisch-organisatorischer Prozess.
4 Ausstiegsmodelle aus der Literatur:
1. Generelle Modelle
1.1 Stufen und Phasen des Wandels (Prochasa 1992)
Stages and Process of Change: A Transtheoretical Model
5 Stufen des Wandels
- precontemplation
- contemplation
- preparation
- action
- maintenance
10 Phasen des Wandels
- helping relationship
- consciousness raising
- self-reevaluation
- self-liberation
- counter-conditioning
- stimulus contro
- reinforcement management
- dramatic relief
- environmental reevaluation
- social liberation
Modell entstand im Zusammenhang mit Drogenabhängigkeit, wo der Ausstieg als rein individueller Prozess kognitiver Neuorientierung und Verhaltensänderung verstanden wird. Das Modell versagt bei Prostituion, wo viele Faktoren zusammen wirken: Drogen, Isolation, Scham, Stigma... Deswegen sind Hilfen für Sexworker besonders notwendig.
1.2 Role Exit Model (Fuchs Ebaugh 1988)
4 Stages
- first doubts (internal: tired, shame, unfree or external: police, partner)
- seeking alternatives
- turning point (rehab or exit program) has 3 functions
· allow exiters to announce their decision to others
· help them mobilize both emotional and social resources to complete the exiting process.
· reduce their cognitive dissonance
- creating an ex-role (their former “role identification has to be taken into account and incorporated into a future identity (role residual or hangover identity)”)
Die soziale Isolation von Sexworkern, die fehlenden formellen und informellen Hilfesysteme werden im Modell nicht berücksichtigt.
Keines der Modelle berücksicht dass bei Sexworkern häufige "entry-exit-re-entry" Verhalten (yo-yo-Verhalten).
Die Motive zur Sexarbeit (Geld, Freiheit, Tabubruch...) als auch krisenauslösenden Probleme sind extrem unterschiedlich (Razzien, Überfall, Ekelgefühl, Verdienst-Degression, Partner...).
2. Sexwork spezifische Ausstiegs-Modelle
2.1 Überwindung des Matthäus Effekts (Manson u Hedin 1999)
Mattheus Effekt der selbstverstärkenden Akkumulation. Benannt nach der Bibel: "Wer hat dem wird gegeben...der Arme wird noch ärmer".
Der Effekt wurde bei 'normalen' Berufskarrieren bestätigt:
Matthew effect on career study highlights the importance of early career development, showing that many careers are stunted by the relative disadvantage associated with inexperience.
www.pnas.org/content/108/1/18.short (Vgl. das kapitalistische Prinzip des Monopoly Spiels (Marktbereinigung) und Manager-Weisheiten wie "The winner takes it all")
5 Phasen
- drifting in (Einstieg, Hineinrutschen)
- ensnarement (Verführt- und Verfangenheit)
- prebreakaway (vorläufiger Ausstieg)
- breakaway (Ausstieg)
- after the breakaway (Ausstieg sichern)
Übergang zum Ausstieg (breakaway) verläuft entweder plötzlich oder langsam:
Wendepunkte, die wie ein Blitz einschlagen, sind:
- eye-opening events wie unerwartete Kundenwünsche,
- traumatische Erlebnisse wie Gewalterfahrung, Razzia
- positive Lebensveränderungen wie neue Liebe (weggeheiratet werden, Pretty Women Syndrom) oder Jobangebot
- Grenze der Erduldbaren ist erreicht (das Maß des Leidens ist voll)
Graduelle Umstellung erfolgt durch:
- Sexservice reduzieren
- Präsenz und Sichtbarkeit/Erreichbarkeit einschränken
- kein Neukundengeschäft sondern nur noch gute Stammkunden
Ausstieg kann also entweder schnell sein und ganz ohne Vorbereitungsphase ablaufen, z.B. für die wenig fest eingebundenen Sexworker oder nach einem besonder negativem oder positivem Schlüsselerlebnis oder aber extrem langwierig sein, für die tiefer Involvierten die evt. eine sehr positive Sexwork-Identifikation und Gegnerschaft zur prostitutionsfeindlichen "Normalwelt" entwickelt haben.
Hilfsfaktoren
- strukturelle (gesellschaftliche Faktoren)
· Sucht (Drogen-Entzugsprogramme)
· Arbeit (Vermittlungsangebote)
· bezahlbare Wohnung
· Ausbildung (Qualifizierungsmaßnahmen)
· Sozialversicherung
· Steuern [das Thema fehlt in dem Paper]
- relationale (Beziehungen)
· pers. soziale Netzwerke
· informelle Hilfen vom Partner oder Kindern
- individuelle
· Die Fähigkeit zu Träumen, sich in anderer Leben-&Berufs-Lage vorstellen und Zukunfspläne machen zu können liegt ganz am Anfang und ist ganz zentral
· Belastbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität
· Kenntnisse und Fähigkeiten
· Interessen und Motivation (Selbstmotivationsfähigkeit)
Die Verquikung von Problemen auf der strukturellen, relationalen und individuellen Ebene macht den Ausstieg sehr schwer.
Die meisten Sexworker benötigten mehr Hilfen, als ihre eigenen Ressourcen oder Netzwerke geben konnten.
Hauptsächliche Widerstände und Schwierigkeiten:
- Erlebte Vergangenheit aufzuarbeiten und den Lebenssinn der eigenen Prostitutionserfahrung finden
- Scham
- Isolation, Marginalisierung
- Umgang mit Intimität und engen Beziehungen
2.2 Transition becoming an Ex-Sex Worker (Sanders 2007)

Original s.o. im Posting #30
zu Gradual Planning
· Was für manche outdoor sexworker Drogenentzugsprogramme sind, sind für
· in-door sexworker und Escorts genaue Finanz- und Versicherungschecks für den "Ruhestand", um mit dem großen Verdienstrückgang fertig werden zu können.
Gute Planungshilfen für Sexworker werden benötigt:
- Checklisten
- Hilfen für die Interessen-/Fähigkeiten-Bestimmung, Visionsentwicklung und Berufswahl
- Merkblätter zu Steuern, Finanzen und Versicherungen, Arbeitsamt und Umschulungen...
- Aufwand/Energie-, Zeit- und Kostenkalkulationen
- Adresslisten, Weblinks von Anlaufstellen und Hilfsangeboten
- Erfolgsgeschichten und Fallbeispiele (Rezepte)
- ständiger Informationsfluß und Anbindung aller interessierten und dem Thema aufgeschlossenen Sexworker (Inklusion) z.B. durch regelmäßige Rundbriefe, podcasts, eMail-Beratung, Mailingliste, social community website, Hotline, Selbsthilfegruppe
Faktoren der Prostitutionsfalle sind:
- Geldbedarf für Drogen
- Geldbedarf für Strafzahlungen
- geringere Verdienstmöglichkeiten außerhalb der Sexarbeit
Hindernisse beim Ausstieg aus der Sexarbeit
- Individuelle Faktoren
· selbstzerstörerisches Verhalten
· Drogenmißbrauch
· Psychische Probleme, SWBO
· Folgen von Traumatisierungen in der Kindheit
· Traumata von Gewalterfahrungen als Frau privat, als Sexworker im Beruf
· Klinisch psychologischer Stress vgl. SWBO
· Geringer Selbstwert, Scham, Schuld
· Körperliche Gesundheitsprobleme (Krankheit, Unfall, Gewalt)
· Kein Wissen um Hilfsangebote (Sprachprobem, fehlende Netzwerke, Werbung, PR, Outreach, Streetwork)
- Reationale Faktoren (Beziehungen)
· kaum konventionelle und informelle Unterstützungsangebote
· zerrüttete, dysfunktionale Familienbeziehungen
· Zuhälter
· Drogendealer
· soziale Isolation
- strukturelle Faktoren
· Arbeitslosigkeit (Massenarbeitslosigkeit, Benachteiligung von Frauen und Älteren)
· fehlende Ausbildungen/Zeugnisse der Sexarbeiterin
· fehende Ausbildungsangebote/Weiterqualifizierungsangebote (Praktika)
· bezahlbarer Wohnraum (Wohnungslosigkeit, Armut)
· Vorbestraft durch angehäufte und unbezahlte Ordnungsstrafen
· fehlende unpassende Hilfsangebote
- gesellschaftliche Faktoren
· Diskriminierung, Stigmatisierung [und Tabuisierung, Marginalisierung, Alienisierung, Exkludierung, Kriminalisierung]
Was gebraucht wird sind nicht nur die Auflistung von Problemen, sondern ganz wichtig Problemlösungsbeispiele und -vorschläge
... diese gilt es noch zu erarbeiten ...
Auf dem Weg dahin ist es evt. auch zweckmäßig eine Typologie von Sexworkern oder Sexworker-Problemlagen zu entwickeln. Was sind die häufigsten Probleme, welche Problem-Konstellationen treten häufiger auf (Faktoranalyse)...
Integriertes Ausstiegsmodell (Lynda M. Baker e.a. 2010)
Besteht aus 6 Phasen.
Ist also die Überarbeitung und Integration der obigen 4 Modelle:

Sechs Phasen:
1. Immersion (= Verhaftung in der Sexarbeit)
2. Awareness. In der Bewußtwerdungsphase gibt es zwei Stufen:
- Visceral awareness (Bauchgefühl, Unwohlsein, unbewußte Signale für Helfer)
- Conscious awareness (Bewußtwerdung und Verbalisierbarkeit)
3. Deliberate Planing (Planungsphase)
- Durchdenken der eigenen Problemlage
- Informationen sammeln aber noch keine Verhaltensänderung
- Sichten von formellen Hilfsangeboten und informellen Hilfen. Erste Kontakte.
Phase entweder aus eigenem Antrieb oder auch durch andere eingeleitet (Familie, Jugendamt, Verurteilung)
4. Initial Exit (Ausstiegsversuch)
- Formeller Ausstieg (z.B. Ausstiegsbetreuungs-Projekt, Entzug) oder informeller Ausstieg (z.B. Umzug, Zusammenziehen mit Familie)
Erfolg hängt davon ab ob
· Hilfs-Programme in der Stadt vorhanden sind,
· die Sexarbeiterin einen Sponsor oder ausreichend Rücklagen hat (vgl. in D ALG2-Berechtigung)
· es gelingt Information, Tipps und Wissen umsetzen zu können in Verhaltensänderung (Können).
5. Reentry (Wiedereinstieg, yo-yoing, reactioary reimmersion)
- Alles kann sich wie gehabt wiederholen oder
- beim nächsten Durchlauf wird die Schleife wesentlich einfacher/erfolgreich durchlaufen oder
- die Erfahrung des Scheiterns erzeugt eine zusätzliche Blockade und der Sexworker wird für Hilfe unerreichbar (Stempel Untherapierbarkeit).
6. Final Exit (Nachhaltiger Ausstieg)
Die meisten Sexworker brauchen mehrere Anläufe und lange Zeit.
Genaue Zahlen fehlen, zumal auch kein genaues Kriterium angegeben werden kann (6 Monate erfolgreicher Ausstieg/Abstinenz ist als Kriterium ungeeignet bei Sexwork).
- Herausbildung einer neuen "Ex-Sexworker-Identität"
- Integration von 'hang overs' aus der Sexarbeit ins neue Leben. Typische Probleme sind
· Kontaktscheu, zerrüttetes Männerbild
· Veränderte Sexualität im Erleben und Wünschen
· alte Freunde bzw. deren Fehlen
· Tagesstruktur umkrempeln müssen
- Wesentliche Veränderungen im Leben, sparsamerer Life-Style, ganz neue Gewohnheiten
- Neue Versorgungsbeziehungen aufbauen (Job)
- Reentry bleibt eine ständige Möglichkeit
(Das Modell bezieht sich auf Frauen in der Straßenprostitution und nicht auf andere Arbeitsformen, Callboys oder Transsexuelle.)
Weil das Modell zwar auf vielen Fakten und Erkenntnissen aber nicht auf einer Theorie aufbaut, darf es nicht verallgemeinert werden. Das Modell soll der Theoriebildung dienen. Bisher ist es nur eine Analogie oder Veranschaulichung der empirischen Befunde oder von etwas, was nicht direkt beobachtbar ist.
Insofern kann das Modell der Forschung helfen z.B. herauszubekommen ab welchem unbewußten Unwohlsein ein Umschlagen zur Bewußtheit stattfindet. Es können Diagnose-Tools für die verschiedenen Phasen entwickelt werden.
Das Modell soll auch der Ausbildung der Leute in der Helferindustrie dienen. Es soll darüberhinaus Vorurteile abbauen und zeigen, dass Sexworker wegen der Marginalisierung kaum für sich selbst eintreten können und viele Hilfsangebote daher nicht ihre Bedürfnisse treffen.
Aber es ist auch Selbstdiagnosemodell. Wie oben schon gefordert, brauchen wir Sexworker gute Rezeptbücher und Ratgeber, so wie sie auch in anderen Lebensbereichen (von Kochen bis Gesundheit) den Menschen Hilfestellung geben.
Ausstiegs-Methoden sollten gelehrt werden (Sexworker Academy)
- Dann können Sexworker besser sehen welche Hilfen gut für sie sind
- Feststellen in welcher Lebens-/Berufs-/Exit-Phase sie stehen
- Sich besser vorbereiten
- Fehlverhalten bei Einstieg und während der Sexarbeit vermeiden
· ungenügend Rücklagen bilden (Finanzwissen nachholen)
· Fortbildungen, Kurse mit Zeugnissen vergessen zwischendurch zu machen (Karriereplanung)
· Lücken im Lebenslauf entstehen lassen
· Nur einseitig sich auf Sexarbeit ausrichten und verlassen (Abhängigkeit und Falle für Vollzeit-Sexworker) ohne einen bürgerlichen Nebenjob aufgebaut oder behalten zu haben
· Zu viele/alle Kontakte abgebrochen
· Unzureichend geplantes und gegen zu wenige Eventualitäten abgesichertes Doppelleben (Stigma-Management)
· zu leichgläubig, uninformiert, risikobereit, trotzig, selbstzerstörerisch
· rechtzeitigen Ausstiegszeitpunkt als es einem gut ging nicht bemerkt/verpasst (Falle Prostitution)
- Verstehen dass Wiedereinstieg kein Versagen bedeutet
- Spüren dass Sexworker mit Ausstiegsproblemen nicht alleine sind
- Verstehen dass Verhaltenswandel und Erfolg zu schaffen sind.
Meiner Meinung nach gehört Ausstiegsberatung bereits als Teil in eine gute Einstiegsberatung.
Sexworker und Ex-Sexworker sind an der Entwicklung und Evaluierung von Projekten und Materialien zu beteiligen "Nothing about us, without us!".
Viele Gefahren bemerken Sexworker leider zu spät (Die Rechnung wird erst am Ende präsentiert). Sexworker die Ausgestiegen sind bleiben meist unsichtbar (denn für Ex-Sexworker bleibt das Sexwork-Stigma lebenslang weiterbestehen) und es gibt daher keine positive Feedbackschleife so wie wir es hier zwischen erfahrenen Sexworkern und Einsteigern im Sexwoker Forum organisieren. Daher evt. auch die Reaktion der Gesellschaft, die einfach pauschal verbietet (stigmatisiert und kriminalisiert), weil sie selbst keine nachhaltigen Lösungen in Lebenslaufbetrachtung für möglich hält (Bild von der 'gefallenen' Frau, Tabu Prostitution). Dabei kann Ausbildung so viel verändern. Sammelthema Whore Academy:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?t=817
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p.s. leider benutzten die Autorinnen unhinterfragt die putophobe Terminologie 'prostituted women'.